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Nahe - Menschen am Fluss (1): Von der Kamera erzogen

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Über 125 Kilometer windet sich die Nahe von der Quelle bei Nohfelden bis zur Mündung in den Rhein in Bingen. Etwa 300 000 Einwohner leben hier. Viele von ihnen kommen täglich mit dem Fluss in Berührung – durch ihre Arbeit oder weil sie direkt an der Nahe leben. Doch wer sind die Menschen an der Nahe, und welche Bedeutung hat der Fluss für sie? Neu in der Region haben Fotograf Benjamin Stöß und Reporter Robin Brand sich zwei Monate auf die Suche gemacht und einige von ihnen kennengelernt. In der Serie "Die Nahe - Menschen am Fluss" stellen sie ihre Begegnungen vor. Diesmal treffen sie Fotograf Jürgen Cullmann.

Spiegelverkehrt und ein wenig verschwommen fließt die Nahe über die Bäume am Ufer hinweg. Vorsichtig greift Jürgen Cullmann an die Objektivstandarte, zieht sie wenige Millimeter in Richtung Bildstandarte und das Motiv ist scharf. Dann zieht er seinen Kopf unter dem Dunkeltuch seiner Kamera hervor und schaut auf den Ausschnitt, den er fotografieren möchte.

Der Fotograf steht am Ufer der Nahe in Idar-Oberstein am Kammerwoog. Er ist hierher gekommen, um ein weiteres Bild für seine Fotoserie über den Fluss zu machen. Seit drei Jahren fotografiert Jürgen Cullmann die Nahe. Von Idar-Oberstein bis zur Quelle will er die Besonderheiten, die charakteristischen Details des Flusses einfangen. Der 59-Jährige aus Schwollen ist ehemaliger Marketingleiter der Kreissparkasse Birkenfeld. Seit Februar ist er in Altersteilzeit. Die neu gewonnene Zeit investiert er, so oft es geht, in seine Fotoserie. Was er mit den Ergebnissen machen will, weiß er noch nicht. Wichtiger als das Ergebnis ist es ihm, zu fotografieren. Der Prozess selbst steht im Mittelpunkt. Seine Motive hält er mit seiner Deardorff V8 fest, eine Großformatkamera, deren erstes Modell 1923 hergestellt wurde. Sein Modell stammt aus den 50er-Jahren und ist mit dem Apparat der ersten Stunde fast baugleich.

Keine Postkartenmotive

Es ist eine fast vergessene Art der Fotografie, die Jürgen Cullmann gewählt hat. Bevor er mit seinem Monstrum, wie er seine Kamera nennt, ein Motiv fotografiert, steht eine aufwendige Recherche an. Er verbringt Tage am Fluss, schläft am Ufer und atmet die Nahe auf der Suche nach einem passenden Bild. Das Licht. Der Ausschnitt. Alles muss stimmen. Auf Postkartenmotive hat er es nicht abgesehen. Mit seinen Fotos will er die Dinge fotografieren, die nur er sieht. Die Nahe zu fotografieren, macht ihn zum Forscher, zum Entdecker der versteckten Details.

Hat Jürgen Cullmann eine passende Stelle gefunden hat, rückt er mit seinem Monstrum an. Sechs Kilo wiegt allein die Kamera, das gesamte Equipment ist 30 Kilogramm schwer. Diesmal hat er es auf das Mäandern des Wassers abgesehen. Am gegenüberliegenden Ufer verfängt sich das Wasser in den Wurzeln, wird nach unten gespült, und es entstehen kleine Wirbel. Das geschieht ganz langsam und kaum sichtbar. Jürgen Cullman will es festhalten. Schon über eine Stunde steht er am Ufer, hat seinen Ausschnitt gewählt und die Kamera aufgebaut. Nachdem er das Motiv scharf gestellt hat, misst er mit einem Lichtmesser die Helligkeit für die richtige Belichtungszeit. Wolken ziehen auf, Jürgen Cullmann bricht ab. Das ist nicht das Bild, das er sich vorgestellt hat. „Das Schwierige ist, die Realität mit den Gedanken zu synchronisieren", sagt er. Seine Großbildkamera zwingt ihn zur Langsamkeit und wochenlanger Vorarbeit. Am Ende eines Einsatztages hat er ein brauchbares Bild auf Film gebannt – wenn es gut läuft. „Häufig gehe ich auch wieder nach Hause, ohne ein Bild gemacht zu haben." Seit Februar hat der 59-Jährige drei Bilder geschossen. Die Fotografie begleitet ihn seit fast 35 Jahren.

Langsame Annäherung

„Es war mir nie wichtig, Karriere zu machen. Was ist schon Karriere. Wichtiger war mir, hier zu bleiben. An der Nahe. Hier bin ich zuhause", sagt Jürgen Cullmann. Dann lächelt er. Er trägt robuste Schuhe, eine Jeans und ein schlichtes, braunes T-Shirt. Doch mit seiner Hornbrille, den feinen Gesichtszügen und dem sorgfältig gestutzten Bart sieht der Mann mit der gewählten Ausdrucksweise und der weichen Stimme auch heute eher wie ein Banker aus als wie ein Mensch, der im Wald übernachtet. Doch sobald der 59-Jährige von der Nahe und seinem Projekt redet, fängt er an zu schwärmen. „Man muss sich der Nahe langsam nähern, um sie zu entdecken. Man muss sie Stück für Stück abschälen." Mit seinen Bildern will er die Nahe zeigen, wie er sie sieht: „Die Nahe hat etwas Geheimnisvolles, Archaisches, Unangetastetes, wie man es bei keinem anderen Fluss findet." Seine technischen Mittel hat er gewählt, um einen Stil zu erschaffen, der stellvertretend für die Nahe steht: „Mit einer Großbildkamera sind die Bilder cremiger, Schwarz-Weiß reduziert das Bild auf die Kontraste." Die Wolken sind verzogen. Jürgen Cullmann verschwindet wieder unter dem Dunkeltuch und sperrt alle Reize, die ihn stören, aus. Hier zählen nur er und sein Motiv. Er richtet seinen Ausschnitt neu ein und stellt das Objektiv scharf. Er kommt unter dem Tuch hervor und misst das Licht. Dann stellt er die richtige Belichtungszeit ein und schaut prüfend zum Himmel. Keine neue Wolkenfront in Sicht. Noch ein Blick zum Motiv. Fließt das Wasser so, wie es fließen soll? Ist jetzt der richtige Augenblick? Jürgen Cullmann zögert.

Vier Schüsse pro Einsatz

Seine Anfänge in der Fotografie hat Jürgen Cullmann mit einer Spiegelreflexkamera gemacht. Damit ausgerüstet machte er sich auf die Jagd nach den spektakulären Motiven in seiner Region. „Am Anfang habe ich schon dem Klischee des klassischen amerikanischen Landschaftsfotografen entsprochen", gibt er zu. Doch bald merkte er, dass er seinem Bild der Nahe mit dieser Art der digitalisierten, schnelllebigen Fotografie nicht gerecht werden konnte. „Die wahre Schönheit der Nahe entfaltet sich erst, wenn man ihr Zeit gibt", erklärt er.

Deshalb suchte er nach neuen Wegen und fand seine Lösung in einer der ursprünglichsten Formen der Fotografie. Mehr als vier Schüsse pro Einsatz hat er nicht. Einer davon muss sitzen. Das zwingt ihn zur Reflexion. „Die Kamera hat mich erzogen", sagt Jürgen Cullmann dazu. Die reflektierte Art, wie er von seiner Arbeit redet, erzählt einiges über die schrittweise und nachdenkliche Annäherung Jürgen Cullmanns an den für ihn richtigen Weg, die Nahe zu fotografieren. „Ich muss das Motiv zu Ende denken, bevor ich es mache." Hat er ein Motiv zu Ende gedacht, zählen nur noch der Aufbau und die Einstellungen vor Ort.

Hat er den Abzug gedrückt, kann Jürgen Cullmann nur noch hoffen. Nach dem Entwickeln gibt es keine digitale Nachbearbeitung, keine Retuschen. Es ist ein einfacher Prozess, so einfach und schlicht wie seine Bilder. Keine Farben, kein Bombast. Nur die kleinen Details, die flüchtigen Erscheinungen: übereinander wachsende Hunderte Jahre alte Wurzeln am Naheufer, die Zeichnungen der Wasseroberfläche oder die kaum sichtbaren Umwälzungen darunter. Die Dinge, die nur ein Betrachter sieht, der sich Zeit lässt. Die Dinge, die die Nahe für Jürgen Cullmann ausmachen.

Ein letztes Mal schaut er auf die Bildstandarte, vergewissert sich, ob das Bild wirklich scharf ist. Die Belichtungszeit ist eingestellt. Ein Blick ans andere Ufer. Wie fällt der Schatten? Er legt einen Filter für den richtigen Kontrast ein, schaut noch einmal zum Himmel. Die Sonne steht nun ein wenig höher, streift nur noch leicht die Baumwipfel. Auf dieses Licht hat er gewartet. Jürgen Cullmann drückt auf den Auslöser.


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