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Channel: Nachrichten aus dem Oeffentlichen Anzeiger Bad Kreuznach
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Den Puls gefühlt: Wie der Jahrmarkt tickt

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Bad Kreuznach - Der Samstagabend auf dem Kreuznacher Jahrmarkt: Da kommt, wer das Fest in seiner vollen Blüte erleben will. Diesmal zogen unser Redakteur Harald Gebhardt (51), seit mehr als 35 Jahren (fast) jedes Jahr "unne", und unser zugezogener Volontär Robin Brand (25) bei seiner Jahrmarktspremiere gemeinsam los. Hier schildern der alte Hase und der Grünschnabel ihre Eindrücke.

Robin: Eins vorweg: Ich bin kein großer Jahrmarktsfan. Auf dem Heinerfest in Darmstadt wurde mir vor drei Jahren der Geldbeutel geklaut. Vielleicht habe ich ihn auch verloren. Jedenfalls war er weg. Auf der Rheinkirmes in Düsseldorf im vergangenen Jahr hat es in Strömen geschüttet. Meine Freundin und ich standen knöchelhoch in Schlamm und waren grob geschätzt die einzigen Besucher. Doch in Bad Kreuznach ist alles anders. Seit April wohne ich hier und seitdem weiß ich, dass der Jahrmarkt wichtig ist. Die Bad Kreuznacher sind sich da einig und haben es mir beigebracht. Schon am Freitag hat der Nachbarsjunge sein Jahrmarktgeld gekriegt. Am Samstag ist es dann für mich soweit. Bereits von weitem riecht es nach Popcorn, Pommes und Pferdeäpfeln. Die Ponys am Eingang markieren ihr Revier.

Harry: Ein Herz für den Jahrmarkt hatte ich schon immer. Als "echter" Kreuznacher heißt es für mich natürlich jeden Tag "nix wie enunner". Früher waren’s meistens fünf Tage oder vier, heute müssen zwei oder drei reichen. Die Faszination Jahrmarkt wirkt noch immer, was genau sie aber ausmacht, kann ich Robin auch nicht so richtig erklären. Muss ich wohl auch nicht. Man muss den Jahrmarkt einfach erleben. Rückblickend wirkt manches verklärt, die Erinnerung verblasst, vielleicht lässt auch die Faszination ein bisschen nach. Im Vergleich zu früher, versteht sich. Mit den Jahren wird’s eben schwer.

Robin: Unsere erste Station ist der Dippemarkt. Hier hat Harry mal eine Lachkatze erstanden. Und ist bis heute davon begeistert. Bunt zusammengewürfelte Händler bieten Löffel, Bürsten und kleine Porzellanfiguren feil. Beruhigend für Diabetiker, die ihre Strümpfe vergessen haben: Es gibt auch Diabetikersocken. "Ohne Nähte an der Spitze, kein Gummizug am Abschluss", erklärt der Verkäufer. Für acht Euro gibt's drei Paar. Klingt fair. Nur eines scheint es nicht mehr zu geben: Harrys Lachkatze. Ein herber Dämpfer.

Harry: Um den Dippemarkt hab’ ich all die Jahre eher einen großen Bogen gemacht. Vielleicht lag’s ja an den giftgrünen Töpfen und Pfannen, die ich überhaupt nicht brauchen wollte, die mich abschreckten. Aber wenn so ein Neuling dabei ist! Bambuslatschen oder Diabetessocken? Nichts für mich: Hüte und Deckchen auch nicht. Richtig fündig wurde ich hier eigentlich nur einmal, und das ist noch gar nicht so lange her, zwei oder drei Jahre, glaube ich. Als meine Lebensgefährtin eine Lachkatze entdeckte, die auf Bewegung reagiert und dann, sich vor Lachen krümmend, über den Boden rollt. Cool - ein Jahrmarkts-Mitbringsel für unsere Hauskatze Kitty, die ihren neuen Hausgenossen aber nur kritisch beäugte und nicht so recht wusste, was sie damit anfangen sollte. Während wir uns kaputt lachten. Inzwischen ist die Lachkatze sonst wohin verschwunden.

Robin: Um den Schock mit der Lachkatze zu verkraften, brauchen wir erst einmal ein Bier. Es ist 21 Uhr, das Bierzelt mäßig gefüllt. "Richtig voll wird es hier erst ab elf", erklärt mir Harry. Die Band spielt den Mickie-Krause-Bierzelt-Evergreen "Schatzi, schenk mir ein Foto". Auch der Losstand gegenüber geht musiktechnisch kein Risiko ein: Lou Begas "Mambo No. 5" ist einfach eine Bank. Das funktioniert immer. Ebenfalls außerordentlich gut: die Feuerwurst. Ob sie das Erfolgsgeheimnis des Jahrmarkts ist?

Harry: Also meine halb gare Rostbratwurst, die mir noch lange schwer im Magen liegt, ist es ganz bestimmt nicht. Und im alten Bierzelt steppte früher so richtig der Bär, wurde auf Tischen und Bänken getanzt - mit dem Maßkrug in der Hand. Und vor Jahren fand dort auch einmal die ersten Lesben- und Schwulen-Party auf dem Jahrmarkt statt. Was damals für reichlich Aufregung und Diskussionen sorgte.

Robin: Nach der Wurstpause steht die Reise auf den Gipfel an: Eine Fahrt mit dem Riesenrad, das Wahrzeichen des Volksfests. Doch zuvor brauche ich Geld; der Jahrmarkt ist nicht billig. Am Geldautomat beratschlagt ein junges Pärchen vor mir über den Betrag, den es abheben soll. "Na alles, es ist Jahrmarkt", lautet seine pragmatische Lösung. Bis zu 50 Meter über den Jahrmarkt hebt das Riesenrad seine Gondeln. Die Aussicht auf das leuchtende Gewusel zwischen den Buden und Fahrgeschäften ist einmalig. Trotzdem kommt mir der Jahrmarkt nach wie vor wie ein normaler Jahrmarkt vor.

Harry: Nach vielen Jahren sitze ich also mal wieder im Riesenrad. Früher war mir das zu langsam - langweilig. Lieber was fahren, in dem man Kopf steht oder es möglichst schnell rund geht. Dabei habe ich fast schon vergessen, wie toll die Aussicht von ganz hier oben ist - über die hell beleuchtete, einzigartige, bunte Jahrmarkts-Glitzerwelt und Budenstadt. Eine Fahrt zum Genießen. Und dem Alter angemessen dreht das Riesenrad gemütlich-gemächlich seine Runden.

Robin: Zum Schluss geht es in das Weinzelt, keine Wespe in Sicht, aber das Stimmengewirr klingt wie in einem Nest. Bis zu 92 Dezibel erreicht die Lautstärke in dem voll besetzten Zelt. Viele gehen auf Tour, auf der Suche nach Freunden aus der Schulzeit, Arbeitskollegen oder ehemaligen Kreuznachern, die zum Jahrmarkt gekommen sind. Hier scheint der Puls des Fests zu schlagen. Auch Harry ist direkt in einem Gespräch gefangen. Ich hingegen brauche wohl noch das ein oder andere Jahr Bad Kreuznach, bis auch ich meine Uhr nach dem Jahrmarkt stelle.

Harry: Da ist es wieder, dieses vertraute, laute Gebrummel. Wie in einem Bienenstock. Ein unfassbares Stimmengewirr, das in meinem Kopf nur so surrt und summt wie eine Dröhnlandsymphonie. Mein Jahrmarkts-Feeling. Wie viele Stunden und Nächte ich wohl hier schon verbracht habe? Dagegen mutete der Besuch eines Rolling-Stones-Konzerts ja fast wie eine Senioren-Party an. Auch früher schon. Na ja, Mick Jagger und Co. sind inzwischen ebenfalls in die Jahre gekommen. Ich auch. Die "Wilden Jahre" sind irgendwann vorbei: Mit den Jahren wird’s schwer.

Harald Gebhardt und Robin Brand


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